Historischer Rückblick zur Entwicklung der Notfallmedizin in Göttingen
Die Klinik für Anästhesiologie (vormals Zentrum Anästhesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin, ZARI) gehört zu den Wegbereitern der präklinischen Notfallmedizin in Deutschland. Sowohl der erste Ordinarius für Anästhesiologie Professor Stoffregen, als auch sein Nachfolger Professor Kettler hatten erkannt, wie wichtig die präklinische Versorgung von Notfallpatienten sowohl für das Überleben als auch zur Verkürzung eines Krankheitsverlaufes ist und haben maßgeblich an der Verbesserung der notfallmedizinischen Versorgung der Bevölkerung Anteil.
Meilensteine des Engagements der Klinik für Anästhesiologie sind die Etablierung des ersten Notarztwagens in Niedersachsen im Jahr 1971 und die Stationierung des Rettungshubschraubers Christoph 44 im Jahr 1980 am Universitätsklinikum.
Darüber hinaus – noch lange bevor Qualitätssicherung ein Schlagwort war – werden auf Betreiben des ZARI seit 1984 die Einsätze aller Rettungsmittel in Stadt und Landkreis auf einem einheitlichen, am ZARI entwickelten "Rettungseinsatz-Dokumentationsbogen" erfasst. Dieser Bogen wurde in leicht modifizierter Form 1996 vom Landesausschuss Rettungsdienst für ganz Niedersachsen empfohlen.
Seit 1995 ist die telefonische Anleitung zur Wiederbelebung durch Disponenten der Rettungsleitstelle ein Thema. Erst 15 Jahre später, 2010, wurde die Notwendigkeit dieser Maßnahme in den Europäischen Leitlinien zur Wiederbelebung gefordert.
Das Wissen darum, dass auch die präklinische Notfallmedizin ärztlichen Sachverstand braucht um einen guten Ausbildungsstand des Personal zu sichern und um qualitätssichernde Maßnahmen umzusetzen, damit präklinisch nach dem aktuellsten Stand medizinischen Wissens behandelt wird, hat dazu geführt, dass 1984 die Position eines Oberarztes Rettungsmedizin geschaffen wurde.
Diese Position lässt sich am ehesten mit der eines ärztlichen Leiters Rettungsdienst vergleichen, der in Niedersachsen seit 2007 im NRettDG gefordert wird.
In Göttingen war bis 1984 der erste Oberarzt Rettungsmedizin Dr. Cord Busse, bis 2002 Dr. Wolfram Panzer. Seit 2002 ist PD Dr. Markus Roessler für den Bereich Notfallmedizin (Rettungsmedizin) verantwortlich, der seit 2010 auch ärztlicher Leiter Rettungsdienst für die Stadt und den Landkreis Göttingen ist.
Entwicklung der Bodenrettung in Göttingen
In den 50er Jahren hatte das sprunghaft gestiegene Verkehrsaufkommen für einen drastischen Anstieg der bei Unfällen Verletzten und Getöteten gesorgt. So lag die Zahl der Verkehrstoten zwischen 1950 und 1958 bei 75.000. Auf einen Verkehrstoten kamen noch 28 Verletzte.
Nachdem gezeigt werden konnte, dass Notfallpatienten eine bessere Überlebenschance haben, wenn bereits am Unfallort durch Notärzte eine qualifizierte medizinische Erstversorgung durchgeführt wird und sie erst dann in ein Krankenhaus transportiert werden, wurden Ende der 50er Jahre erste Notarztsysteme in Deutschland realisiert. Der Arzt sollte zum Patienten kommen, nicht der Patient zum Arzt!
In Göttingen fanden erste Gespräche über die Schaffung eines Notarztsystems bereits 1958 statt. Die Verhandlungen scheiterten damals aber aus Mangel an Assistenzärzten in den Kliniken. Hiernach vergingen nochmals 10 Jahre bis 1968 das Deutsche Rote Kreuz ein Fahrzeug bereitstellte, mit dem dann im Einsatzfall ein Arzt aus der Klinik abgeholt wurde. Diese Taktik erwies sich aber als zu zeitaufwendig. Während des Bereitschaftsdienstes wurde wegen Personalmangels ein Einsatz nicht erwogen; so lag die Gesamtzahl der Einsätze im Jahr 1969 bei nur 20.
Die Realisierung eines Notarztwagens gelang schließlich erst 1970, als sich die Stadt Göttingen auf Drängen des Ordinarius für Anästhesiologie Prof. Stoffregen und der Berufsfeuerwehr bereit erklärt hatte, die notwendigen Mittel für seinen Notarztwagen bereitzustellen. Gleichzeitig begann man bei der Berufsfeuerwehr (BF) Göttingen in enger Zusammenarbeit mit dem Institut für klinische Anästhesie unter Stoffregen, Feuerwehrmänner in einjährigen Kursen zu Rettungssanitätern auszubilden.
Die Probephase des neuen Systems, das als "verlängerter Arm der Intensivstation" (Stoffregen) verstanden wurde, lief seit dem 16. November 1970 mit einem Opel Blitz der Berufsfeuerwehr, ausgestattet mit vier Tragen. Bereits am folgenden Tag konnte beim ersten Einsatz ein 4-jähriges Kind nach einem Ertrinkungsunfall gerettet werden!
Am 14.12.1971 erfolgte die offizielle Vorstellung des ersten kompletten Göttinger Notarztwagens - ein Hanomag Henschel, von den Anästhesisten des Instituts mit modernsten Wiederbelebungs- und Behandlungsgeräten eingerichtet.
Mit diesem neuen Göttinger Fahrzeug wurde der erste Notarztwagen in Niedersachsen und der neunte in der Bundesrepublik in regelmäßigen Dienst gestellt.
Die Alarmierung erfolgte über eine telefonische Standleitung und häufig musste der erste erreichbare Anästhesist das Fahrzeug besteigen. Die Standortfrage konnte dadurch gelöst werden, dass der chirurgische Ordinarius Prof. H.-J. Peiper auf seinen Privatparkplatz an der Klinik verzichtete.
Im ersten Jahr des Betriebs wurden 511 Einsätze gefahren. Dennoch konnte während der ersten Jahre das System nur durch den großen persönlichen Einsatz vieler Beteiligter am Leben gehalten werden. Erst 1979 wurden 2,5 Stellen für den Rettungsdienst geschaffen. Bereits seit 1980 wurden mehr als 1450 Einsätze pro Jahr gezählt. Mittlerweile werden durch die von der Klinik für Anästhesiologie Notarzteinsatzfahrzeuge jedes Jahr ca. 3500 Patienten versorgt.
Als 1992 in Niedersachsen das Rettungsdienstgesetz in Kraft trat, musste für jeden Landkreis ein Bedarfsplan erstellt werden, in dem festgelegt wird: Anzahl und Standort der Rettungswachen, Anzahl der dort stationierten Fahrzeuge, um in 95% der Fälle einen an einer öffentlichen Straße gelegenen Notfallort innerhalb von 15 Minuten zu erreichen (Hilfsfrist), sowie Ort der Leitstelle.
Die Rettungswachen in Stadt und Landkreis Göttingen wurden wie bestehend in den Bedarfsplan übernommen. Auch eine einheitliche Leitstelle für Stadt und Landkreis, die von allen Orten über eine einheitliche Notrufnummer erreicht werden kann, war bereits vorhanden.
Entwicklung der Luftrettung in Göttingen
Der Wert einer notärztlichen Versorgung am Einsatzort war nunmehr unbestreitbar. Dennoch bedurfte es weiterer Anstrengungen um diese Hilfe möglichst flächendeckend und schnell zu ermöglichen. Maßgeblich an der Entwicklung der Notfallmedizin und der Luftrettung in Deutschland waren damals auch Siegfried und Ute Steiger, die nach dem Unfalltod Ihres Jungen Björn Ihre ganze Energie daran setzten die Strukturen des Rettungsdienstes in Deutschland zu verbessern. Sie gründeten die Björn-Steiger Stiftung aus der die Deutsche Rettungsflugwacht (DRF) hervorging.
Wie anderenorts im Bundesgebiet war auch in Göttingen früh erkannt worden, dass die bodengebundene Rettung durch die gerade in den Anfängen befindliche Luftrettung sinnvoll zu ergänzen wäre. Im November 1970 war der erste Rettungshubschrauber "Christoph 1" in München offiziell in Dienst gestellt und sein Nutzen vielfach unter Beweis gestellt worden. Noch im November 1971 beantragte Stoffregen deshalb, bei der Planung des neuen Klinikums auf jeden Fall die Einrichtung eines Hubschrauber-Landeplatzes zu berücksichtigen. Als aber im Rahmen der Standortverteilung der ersten Rettungshubschrauber (RTH) durch das Bundesinnenministerium (BMI) nach der Einrichtung von "Christoph 2" in Frankfurt (1972) und "Christoph 4" in Hannover (1972) auch Göttingen 1974 im Gespräch war, lehnte die Universitätsverwaltung das Vorhaben ab, weil keine geeignete Landemöglichkeit im Gelände der alten Universitätskliniken vorhanden sei.
Mit dem Umzug ins neue Klinikum waren bessere Voraussetzungen geschaffen worden, so dass die Idee eines RTH am Universitätsklinikum seitens der Anästhesie erneut aufgegriffen wurde.
Nun ging einerseits darum, im Rahmen der 2. Ausbaustufe des Klinikums die räumlichen Voraussetzungen, also Landeplatz, Hangar und Sozialräume zu schaffen, und andererseits einen potentiellen Betreiber für den RTH zu finden. Es bedurfte der Ausdauer und dem Verhandlungsgeschick der Göttinger Anästhesieprofessoren Dietrich Kettler und Hans Sonntag, bis zusammen mit der Deutschen Rettungsflugwacht (DRF), der RTH Christoph 44 schließlich am 01. Juli 1980 in Dienst gestellt werden konnte.
Nach Gesprächen im niedersächsischen Sozialministerium im Oktober 1977 war deutlich zu erkennen, dass die Notwendigkeit, in Göttingen einen RTH zu stationieren, vom Sozialministerium ebenso gesehen wurde wie auch von der Medizinischen Fakultät der Universität. Die Gremien der Stadt unterstützten dieses Vorhaben ebenfalls, allen voran der damalige Oberstadtdirektor Busch. Während der Suche nach einem Betreiber wartete ein Antrag der Stadt an das Bundesministerium des Inneren (BMI) von Februar 1978, einen Hubschrauber des Katastrophenschutzes in Göttingen zu stationieren, lange auf Bescheidung. Durch einen Brief an den Bundesinnenminister Mayerhofer wurde versucht, die Vorteile des Standortes Göttingen mit einer Klinik der Maximalversorgung noch einmal deutlich hervorzuheben. Zu dem Zeitpunkt schien nur eine Verlegung des RTH aus Kassel in Frage zu kommen. Doch sowohl politische Gründe in Hessen, den Hubschrauber nicht abzugeben, als auch fehlende Haushaltsmittel des BMI zur Schaffung eines neuen Standortes führten schließlich im Juli 1978 zu einem ablehnenden Bescheid aus Bonn. Es wurde deutlich gemacht, dass mit der Einrichtung neuer Standorte nicht vor 1982 zu rechnen sei und dass in Niedersachsen dann eher ein nördlicherer Standort ins Auge gefasst werden würde. Andererseits würde man allerdings nichts gegen eine für Bund und Land "kostenneutrale" Neueinrichtung unternehmen.
Parallel zur Suche nach einem Betreiber wurde, nach grundsätzlicher Zustimmung aus allen beteiligten niedersächsischen Ministerien, seit Oktober 1977 in einer Unzahl von Sitzungen versucht, die Voraussetzungen für die Stationierung eines RTH in Form eines Landeplatzes und eines Hangars am Universitätsklinikum zu schaffen. Doch durch eine Intervention des Göttinger Landtagsabgeordneten und damaligen Präsidenten des niedersächsischen Landtages Müller mit einer kleinen Anfrage im Landtag und durch Gespräche mit dem Ministerium für Wissenschaft und Kultur und dem Sozialminister kam doch wieder Bewegung in die Sache. Am 8. Januar 1980 teilte der Sozialminister Schnipkoweit auch im Auftrage des Ministerpräsidenten jedenfalls mit, das Kabinett habe eine Entscheidung zugunsten Göttingens getroffen.
So startete dann "Florian Göttingen 1066", wie der heutige "Christoph 44" zunächst mit Funkrufnamen hieß, am 4. Juli 1980 um 15.58 Uhr zu seinem ersten Einsatz, ein Verkehrsunfall bei Wöllmarshausen. Bereits um 17.38 Uhr wurde er erneut zu einem Verkehrsunfall auf der Autobahn eingesetzt.
Am 22.07.1980 kam dann endlich auch grünes Licht aus Hannover: Das Kabinett hatte in seiner 86. Sitzung die Einrichtung einer RTH-Station in Göttingen beschlossen. Christoph 44 war der erste Rettungshubschrauber der DRF, der an einer Universitätsklinik stationiert wurde. Noch 1980 hatte das neue Rettungsmittel RTH 208 Einsätze zu absolvieren. Bereits 1984 wurden mehr als 1.000 Einsätze pro Jahr geflogen. Seither liegt das Einsatzaufkommen zwischen 1300 und 1500 Einsätzen pro Jahr.
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